Existenzgründer im Kampf gegen die Krise

Vielleicht werde ich noch Opernregisseur

„Kasperle, Kasperle„, sagte ich bei mir selber,
„wie hängst du da elendiglich.„ Da antwortete es ebenso:
„Wart nur, liebs Brüderl, wart nur bis heut abend!„
Pole Poppenspäler, Theodor Storm




Die Augen sind immer am schwierigsten zu konstruieren. Sie sollen sich öffnen und schließen lassen und möglichst echt aussehen. Niemand soll die Mechanik der Augenlieder sehen, niemand soll entdecken, dass sie nur durch das Ziehen von Fäden bewegt werden, die kunstvoll im Kopf miteinander verknotet sind. Als dies gelungen ist hat Matthias Jungermann fünf Stunden in seiner Werkstatt auf dem Dachboden getüftelt, gesägt, gebohrt, geklebt und dabei die beißende Winterkälte ignoriert. Mittlerweile sind seine Finger taub, steif und rotgefroren. Aber endlich betrachtet er freudig im fahlen Lampenlicht seine Klappmaulpuppe wie Eltern ihr Neugeborenes.

Matthias Jungermann ist freier Figurenspieler. Nicht aus Not, aus freien Stücken, sagt er während sich seine klammen Finger um eine heißes Teeglas krümmen und Wärme greifen. Nach dem Studium zum Figurenspieler an der Musikhochschule Stuttgart hat er sich im April 2003 selbstständig gemacht. Für das Finanzamt ist er seither ein Kleinunternehmer, für die Künstlersozialkasse ein Kulturschaffender. Er selbst sieht sich als Künstler, der auch mal Kommerzielles anbieten müsse. Seine ersten Stücke hat er schon in der Studiumszeit eingeübt. So fiel die Existenzgründung leichter. Staatliche Förderung hat er nicht erhalten. Die brauche er auch nicht. Eine Freundin, die zuvor arbeitslos war, habe als Puppenspielerin eine Ich-AG gegründet. Dagegen sei nichts einzuwenden. Übelgenommen aber hat ihr die Szene, dass ihr Konterfei eine Postkarte der Agentur für Arbeit schmückt und man nun denke, Puppenspiel sei was für Dilettanten. Mitnichten. Genau genommen, meint er plötzlich, übe er acht Berufe aus. Das klinge zwar ein wenig breitspurig, gibt er zu, aber schließlich überlege er sich selbst seine Theaterstücke, bastle Figuren, entwerfe Charaktere, mache Werbung, gestalte Verträge, konstruiere die Bühne und baue diese auf und ab. Worauf er schweigt und erwartungsvoll in den Teedampf pustet.

Dann klingelt das Telefon. Jemand möchte einen Weihnachtsmann buchen. Matthias Jungermann ist ganz Ohr, seine Stimme herzlich, der Ton gemütlich und man nimmt ihm ab, dass er mit Kindern kann. Aber das Geld kann er auch gut gebrauchen. Oft genug war er genügsam und im Frühjahr gähnte sein Kühlschrank vor Leere. Manchmal verdient er nur 500 Euro im Monat. Davon muss er dann 200 Euro Miete für Zimmer und Werkstatt, 100 Euro für Telefon, Nebenkosten und Versicherungen abdrücken. Schließlich bleiben noch 200 Euro für Essen und Leben übrig. „Das ist manchmal verdammt nah am Kellnerjob„, sagt der 27-Jährige, aber er sei jung, ledig, lebe in einer WG und vor allem wolle er ja so leben. Und so lange es nicht sein müsse, gebe er keine Schulungen für parfümierte Damen in Schönheitssalons. Aber es geht aufwärts. Letztes Jahr verdiente er 7000 Euro, für dieses Jahr rechnet er mit 9000, was er ganz offen erzählt. Der Künstlersozialversicherung reicht das und das Finanzamt befreit ihn dafür noch von der Umsatzsteuer.

Am nächsten Morgen fährt Matthias Jungermann ins Fuchseck, dem Refugium für die handvoll Studenten des Studienganges Figurentheater. Gipspartikel schweben in der Luft und verkleben die Haare, eine Bohrmaschine brüllt auf, der Geruch von Farben und Lacken kitzelt in der Nase. Hier ist er als Regisseur engagiert und hier hat er in seiner Studienzeit sein Obst- und Gemüsestück erfunden. Mit Ananas, Bananen, Gurke und Weintrauben spielt er biblische Geschichten wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn nach. Den Vater spielt dabei die goldene Ananas mit ihrer prächtigen Krone. Weil er durch seine Jugendarbeit noch viele Kontakte ins christliche Milieu hat, kam er schnell an Engagements. Und wie beim Domino reihte sie sich aneinander. Eine Freundin aus dem schleswig-holsteinischen Neumünster vermittelte ihn an ein Jugendcamp in Kassel. Von dort wurde er ins Erzgebirge eingeladen und nach Dresden weiter empfohlen. Leider seien im Osten die Gagen so niedrig und er frage sich schon, ob sich das dort noch rechne. „Aber bevor ich in Autohäusern spiele, züchte ich lieber weiter Kontakte und verzichte halt auf Kohle„, meint er unerschrocken aus dem Fenster schauend. Vielleicht habe er ja in dreißig Jahren einen großen Laster mit Wohn- und Transportbereich für seine Stative, Bühnen und Lichtcomputer. Vielleicht werde er auch Opernregisseur. „Wartet ’s ab!„


Journalistischer Artikel von Dirk Schneider