Einsamkeit
Den ganzen weiteren Tag saß es Nägel kauend in seinem Zimmer neben dem Feuer; dort aß es auch allein mit seinen Nöten, während der Kellner es zitternd bediente. Jenes Kind der Hölle hatte nichts Menschliches an sich, nur Furcht und Hass lebte in seinem Innern. (R.L. Stevenson, Dr. Jekyll und Mr. Hyde')



Nacht des Gruselns, 6 Puppenspieler und 2 Musikerinnen gestalten einen Abend der unheimlichen Geschichten. Ein anderer Schwerpunkt ist die Frage, was Grusel eigentlich ausmacht, und wie man dies nicht im Film, sondern auf der Bühne darstellen kann.
Grusel entsteht durch das Unerwartete, das Unvorstellbare, das Entsetzliche, das Regeln außer Kraft setzt und einen mit dem Tod bedroht. Große Einsamkeit und das Ganz-auf-sich-selbst-geworfen-sein der Protagonisten bestimmen das Geschehen, und jagen dem Leser oder Zuschauer mehr oder weniger wohlige Schauer über den Rücken, in dem Gefühl, selbst ja - Gottlob! - in Sicherheit zu sein. Oder nicht?
Wir beschäftigen uns mit den klassischen Gruselgestalten, den Untoten und Wiedergängern, den Verunstalteten, den Werwölfen und Aliens, mit der ungeheuren Wehmut nach dem Leben und den manchmal geglückten Versuchen, den Tod zu überlisten.
Der Abend ist als Szenenprogramm gedacht, bestehend aus kleinen Kabinettsstücken des Puppenspiels, der Pantomime und des Erzählens mit Objekten. Die musikalische Untermalung reicht von transyllvanischer Volksmusik bis Cyperpunk mit akustischen Instrumenten und vierstimmigen Chorälen.

Bekannte und unbekannte Figuren aus Horrorfilmen und Grusellektüre sind wieder auferstanden und treffen sich zu einem gemeinsamen Seminar über übersinnliche Dinge. Man zitiert aus klassischer Gruselliteratur, gibt das ein oder andere Beispiel von Unheimlichkeit zum Besten. Versucht, dem geneigten Zuschauer anhand mitgebrachter Demonstrationsanordnungen die verschiedenen Faktoren, die für das Gruseln unentbehrlich sind, zu verdeutlichen:

Dunkelheit, Alleine-Sein, Effekte (Nebel!), Musik, Geräusche geheimnisvolle Persönlichkeiten, Energiefelder, stumme Diener Illusionen und Imaginationen grässliche Orte.

Grusel ist die Erinnerung an frühkindliche Erfahrungen, an die Angst, alleine im Dunkeln zu sein. Natürlich kennt jeder von uns die Situation, als Kind alleine in den Keller geschickt zu werden. Und jeder raste laut pfeifend hinunter und ebenso schnell wieder hinauf, um die Angst vor den dort vermuteten, lauernden Gestalten zu vertreiben. Auch die Schatten, die bei nächtlichen Autofahrten im Regen auftauchen, die links und rechts im Straßengraben vorbeihuschen, sind schon vielen begegnet. Manche haben das Unglück, einen Mensch, den sie gut zu kennen glaubten, sich in ein Monster verwandeln zu sehen. Es ist, als ob die Regeln des normalen Lebens nicht mehr gelten, nichts mehr Sicherheit gibt und Wärme spendet, als ob man etwas Unvorstellbarem ausgeliefert ist....
Fahles Licht taucht die Bühne in violett. Plötzlich schwärmen Myriaden von Motten über die eben noch bleich und langweilig wirkenden Kostüme der Referenten. Alles nur billiger Theatertrick? Leuchtfarbe gar? Was ist der eigentliche Hintergrund dieses Besuchs aus einer anderen Welt? Sind jene nur gekommen, um noch einmal vor den Augen der Zuschauer grauenvoll zu sterben? Doch sie sind nicht allein. Ihre Begleiter und Demonstrationsobjekte, Gruselmonster aus Schaumstoff und Papp-Maschee, haben das Publikum für sich entdeckt und üben sich in der Kunst des Erschreckens Wem wird es besser gelingen, dem Zuschauer jenen wohligen Schauer über den Rücken laufen zu lassen: Den Menschen mit ihren bleichen, ausgemergelten Gesichtern oder den Puppen mit ihren starren Schaumstofffratzen? Das Seminar mutiert zum Wettstreit...

Im Theater...
Im Gruselfilm wird jener Schauer durch unverhoffte Schnitte, durch Kamerafahrten in endlosen Korridoren, gespenstischen Treppenhausern und über nächtliche Friedhöfe erzeugt, begleitet von Unheil verkündender Musik. Und im Theater? Wie kann es gelingen, jenes Gefühl von Einsamkeit in einem Saal zu erzeugen, in dem hundert Menschen dicht beieinander sitzen, und in dem die Notausgangsschilder freundlich grün leuchten?

Zurück zum Anfang: Dunkelheit, Geräusche, Musik - ein Hörspiel? Möglich. Fetzen von Licht, große Schatten laufen an den Wänden entlang. Auftauchen grässlicher Fratzen - ist das alles? Nein, denn da sind noch die Geschichten...




Die Geister der Verstorbenen wurden schließlich so zudringlich, dass die Bauern das Dorf verließen, und damit geriet es in den alleinigen Besitz von heimtückischen und rachsüchtigen Bewohnern, die ihre Gegenwart durch Schatten bemerkbar machen; Schatten, die fast unmerklich schräg fallen, viel zu viele Schatten, sogar um die Mittagsstunde, Schatten, deren Ursprung nichts Sichtbares ist; oder manchmal durch ein Geräusch wie von einem Schluchzen in einem verlassenen Schlafzimmer; wo ein zersprungener Spiegel an der Wand kein Bild mehr zurück wirft; oft ist es auch nur ein Gefühl des Unbehagens, das den Reisenden überfällt, der töricht genug ist, anzuhalten und aus dem Brunnen auf dem Dorfplatz zu trinken, aus dem immer noch das Quellwasser aus einer Röhre im steinernen Maul eines Löwen sprudelt. (Angela Carter; Blaubarts Zimmer)



...und die Gegenstände, ihre stumm-beredten Zeugen. Und der Versuch, sich mit den Mitteln des Figuren- und Objekttheaters einem Genre zu nähern. Was passiert, wenn man die Filmaufnahme eines sprechenden Kopfs auf einen Gipskopf projiziert? Der Gipskopf wird lebendig, wird gar Doppelgänger. Eine Unterhaltung mit sich selbst wird möglich - Dr. Jekyll und Mr. Hyde im Zwiegespräch. Dann doch lieber Psycho, Alfred Hitchcocks Gruselschocker aus den sechziger Jahren als zehnminütige Tragödie eines einsamen Darstellers. In der Rubrik ,,Energiefelder" wird dem unheimlichen Innenleben gehäkelter Sofakissen nachgegangen. Und im Demonstrationsversuch „lllusionen" entstehen plötzlich Räume aus dem Nichts, weil Farbe auf unsichtbarer Gaze in violettem Licht zu leuchten beginnt...

Premiere am 14.Mai 2004
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