Gedanken des Regisseurs Frank Hilbrich zur Inszenierung

Frank Hilbrich: "Das Grundthema von de Fallas Meister Pedros Puppenspiel ist die Benennung und Verschiebung von Wahrnehmungsebenen. In der Oper wird nur ein Kapitel von Cervantes' Roman Don Quijote erzählt, ein kleiner Ausschnitt aus einem ganz großen Werk, ein Fragment aus einer riesigen Geschichte. Zuerst habe ich mich gefragt, warum nimmt de Falla ausgerechnet diese Episode? Warum wählt er nicht die Geschichte von den Windmühlen, warum schreibt er nicht über Dulcinea, Themen, die auch andere Komponisten schon aufgegriffen haben? Dann fand ich die Auswahl gerade dieser Episode immer geeigneter, weil sich in der Geschichte der Begegnung von Don Quijote mit Meister Pedro und seinem Puppentheater am deutlichsten nicht der Charakter des Don Quijote, aber das Prinzip des Don Quijote beschreiben lässt. Vielleicht bietet sie die beste Möglichkeit, den Don Quijote auf dem Theater zu einer prägnanten, lebendigen Bühnenfigur zu machen. Don Quijote ist ja der Leser, er ist derjenige, der sich Geschichten aus Büchern so aneignet, dass er damit durch die Welt zieht und die Welt zu seiner Wirklichkeit der Bücher macht. Das gleiche passiert im Stück noch mal. Nur, dass er hier keine Bücher liest, sondern Theater guckt und die Wirklichkeit des Theaterspiels zu seiner eigenen Wirklichkeit macht. Er nimmt alles ernst, was er dort sieht, und zerschlägt es schließlich. Das ist das Prinzip Don Quijotes, das Prinzip desjenigen, der sich etwas Fremdes aneignet, es falsch versteht oder es auf seine eigene Art und Weise versteht, und am Ende grauenvoll scheitert, indem er es völlig zerstört. In der Episode von Meister Pedros Puppenspiel ballt es sich, ganz klein, ganz konzentriert, exemplarisch zusammen.
Es geht um Wahrnehmung und um die Wahrnehmung Don Quijotes. Es geht aber auch - und das macht de Falla ausgezeichnet - um ein Spiel zwischen mindestens drei Wahrhaftigkeitsebenen, das ständig changiert, ständig springt und immer wieder neue Überraschungen bereithält. Zunächst ist da das Puppentheater, wo sich die Puppen untereinander verständigen, was eine Wahrhaftigkeit bildet. Dann gibt es den Bezug der Puppen zu Don Quijote, Sancho Panza und Meister Pedro. Und schließlich lässt de Falla uns immer wieder die Tatsache spüren, dass wir als Zuschauer auch noch mittendrin sitzen, und es also auch noch eine dritte Ebene der Wahrhaftigkeit gibt.
Das führt dazu, dass ich als Zuschauer eigentlich nie dem vertrauen kann, was ich gerade sehe. Dass alles sofort wieder in Frage gestellt wird, alles einen Augenblick später wieder in einem ganz anderen Zusammenhang beleuchtet wird. Ich muss mich also im Verlauf fragen, was stimmt überhaupt, was ist denn überhaupt Wahrhaftigkeit, wer hat hier eigentlich Recht? Im Sinne von Wahrnehmung - darin steckt auch das Wort Wahrheit - wird alles befragt, und am Ende keine wirkliche Antwort gegeben. Wir als Zuschauer werden aufgefordert, uns dessen gewahr zu werden, was unterschiedliche Wahrnehmung bedeutet und zu was diese Unterschiedlichkeit führen kann. Genauso geht er in der Musik vor, die sich im Stil mal nach der Situation richtet, mal die Situation beschreibt und untermalt, dann wieder Impulsgeber für eine ganz neue Geschichte ist, aber nie eine festgelegte Rolle übernimmt. Sie bleibt skizzierend, zitathaft und keine der Figuren erfährt jemals eine vollendete Durchdringung durch die Musik. Unsere Aufgabe ist es, diese Sprünge deutlich zu machen und sie spielerisch umzusetzen, so dass daraus ein einerseits faszinierendes, andererseits auch irritierendes Spiel entsteht. Als Zuschauer bekomme ich eine Geschichte erzählt, dann wiederum wundere ich mich darüber, wo die Geschichte stattfindet. Findet sie zwischen den Puppen statt oder wird die Geschichte von Melisendra und Don Gayferos viel mehr im Orchester erzählt? Findet sie vielleicht mehr zwischen den Puppenspielern statt als zwischen den Puppen oder letztlich im Publikum?"